Ihr seid auf dem Campus unterwegs und plötzlich knallt es. Als ihr euch umdreht, seht ihr, dass aus einem fahrenden Auto mit Gummipatronen auf euch geschossen wird. Genau das ist am 10.04. auf dem Campus der TU Ilmenau passiert. Mehrere Menschen - hauptsächlich ausländische Studierende - wurden dabei verletzt, beispielsweise am Oberkörper oder am Bein. Jetzt sind viele Fragen offen. Wir haben mit einem Zeugen und einem Opfer gesprochen, bei der Polizei nachgehakt und auch mit Unipräsident Kai-Uwe Sattler geredet. Die wichtigsten Informationen sind hier für euch zusammengefasst.
Fabian und Max haben am 10.04. gegen 21:15 Uhr vor der Fahrradwerkstatt auf dem Campus gearbeitet, als Gummigeschosse neben ihnen an der Wand eingeschlagen sind. Als sie sich umgedreht haben, ist ein schwarzes Auto an ihnen vorbeigefahren, aus dessen Fenster jemand eine Waffe gehalten hat. Fabian wurde in diesem Moment von den Gummigeschossen getroffen. Richtig verstanden, was passiert, haben die beiden in diesem Moment nicht. Trotz der Überforderung konnten sie sich das Kennzeichen merken und später auch der Polizei mitteilen. Laut Fabian deutet die Kombination von Buchstaben und Zahlen auf dem Kennzeichen möglicherweise auf einen rechtsextremen Hintergrund hin. Die beiden setzten einen Notruf ab. Dabei wurde ihnen mitgeteilt, dass es bereits eine weitere Meldung zu dem gleichen Sachverhalt bei der Polizei gab. Bis die vor Ort eingetroffen ist, hat es allerdings gedauert. In der Zwischenzeit ist das schwarze Auto noch mehrfach über den Campus gefahren und hat immer wieder angehalten. Max vermutet, dass so nach weiteren Opfern Ausschau gehalten wurde.
Laut der Polizei ist um 20:30 Uhr die erste Meldung zu dem Angriff bei ihnen eingegangen. Aus Berichten von engagierten Studierenden und Zeugen geht hervor, dass um 21:18 Uhr ein Notruf abgesetzt wurde und erst um 22 Uhr ein Zeuge das erste Mal die Polizei auf dem Campus gesehen hat. Auf unsere Anfrage hin konnte die Pressesprecherin der Polizei keine genauen Angaben dazu machen, wie lange die Polizei gebraucht hat, bis sie am Campus war. Sie konnte nur berichten, dass weitere Einsatzfahrzeuge zur Fahndung des Autos eingesetzt wurden. Insgesamt sind bei der Polizei 10 Notrufe an diesem Abend bezüglich der Tat eingegangen. Einen Tag später, am Freitag, waren der Polizei acht Verletzte bekannt; es wurden aber noch weitere Personen beschossen, jedoch nicht verletzt - nach Befragungen auf dem Campus und Gesprächen mit den Opfern wird davon ausgegangen, dass es insgesamt mindestens 15 Betroffene gibt.
Als die Polizei mit zwei Personen vor Ort war, hat sie den Angriff laut Fabian und Max "von Grund auf nicht wirklich ernst genommen". Fabian sagt sogar, dass er sich regelrecht verhöhnt gefühlt hat. Die Polizei wollte, laut Max, als erstes mit den Verletzten sprechen und hat die Verletzungen mit Fotos dokumentiert. Max berichtet auch, dass die Polizei diejenigen, die angeschossen, aber nicht verletzt wurden, nicht in ihren Bericht aufnehmen wollte - Fabian und Max haben jedoch darauf bestanden. Danach ist die Polizei recht schnell wieder weg gefahren - ohne den Hinweis, die Verletzungen ärztlich dokumentieren zu lassen oder sich bei Bedarf in psychologische Betreuung zu begeben. Laut Max hat die Polizei ihnen dann lediglich einen "schönen Abend" gewünscht.
Fabian war am Tag nach der Tat auf der Polizeiwache, um eine ausführliche Aussage zu machen. Dort waren die Polizeibeamten respektvoll und höflich. Sein Hinweis auf den möglichen rechtsextremen Hintergrund wurde allerdings erst nach zweimaligem Drängen durch Fabian in seine Aussage aufgenommen. Fabian hat uns auch erzählt, dass er "entsetzt" darüber war, dass die Polizei am Abend der Tat keine Verstärkung zum Campus geschickt hat. Als sie an diesem Abend nochmal mit der Polizei telefoniert hatten, hat die ihnen bestätigt, dass bereits 10 Notrufe zum Angriff eingegangen sind - für Fabian eindeutig ein Signal, das Ausmaß der Lage zu erkennen.
Das Präsidium der TU Ilmenau hat einen Tag später, also am Freitag (11.04.), auf den Angriff reagiert. Per Mail hat Präsident Kai-Uwe Sattler im Namen des Präsidiums den Studierenden geschrieben, dass die TU Ilmenau aktuell keine Aussagen zu der Tat machen darf, da die Polizei ermittelt. Er schreibt außerdem weiter, dass das Präsidium "in engem Austausch mit der Polizei" steht und dass das Präsidium davon ausgeht, dass die Tat ein Einzelfall war, der jedoch trotzdem "scharf verurteilt werden muss". Es könnten sich alle "sicher wie bisher auf unserem Campus bewegen", denn auch der Sicherheitsdienst wurde verstärkt und würde jetzt "angehalten, die Kontrollgänge auf dem Campus so früh wie möglich zu verstärken". In der Mail wird auch auf Beratungs- und Unterstützungsangebote an der Universität hingewiesen.
Fabian ist verärgert und enttäuscht über diese Reaktion des Präsidiums. "Es ist kein Wort der Anteilnahme dort geäußert worden", sagt er im Interview mit uns. "Es wurde mal wieder von Einzelfällen gesprochen. Da frage ich mich, wie viele Einzelfälle soll es noch geben?", fügt er hinzu. Fabian bemängelt auch, dass das Präsidium davon ausgeht, dass man sich auf dem Campus genauso sicher fühlen kann wie vor der Tat: "Das stimmt ja einfach nicht. Es wurde einfach nicht adressiert, was da passiert ist".
Fabian wünscht sich, dass es ein öffentliches Statement der TU Ilmenau gibt, in dem sie sich hinter ihre Studierenden stellt und den "Angriff auf die Universität als Ganzes" klar und deutlich kommuniziert. "Das ist wichtig, dass das nicht nur intern passiert, sondern auch nach außen", sagt er.
Wir haben deshalb mit Unipräsident Kai-Uwe Sattler gesprochen und gefragt, warum es bisher ein solches Statement nicht gab und warum das Präsidium auch nicht seine Betroffenheit für die Opfer ausgedrückt hat. "Wir können viele Betroffenheitsstatements machen, das nützt aber, glaube ich, niemandem etwas", sagt der Präsident dazu. Er versteht, dass es Befürchtungen und Ängste gibt, betont aber, dass Ilmenau ein "vergleichsweise sicherer Ort" ist, an dem eigentlich sonst "überhaupt nichts" passiert. Spurlos an ihm vorbeigegangen ist die Tat nicht - Kai-Uwe Sattler war "schockiert", "wütend" und "bestürzt" darüber, was auf dem Campus passiert ist. Im Interview mit uns sagt er auch, dass diese Tat genau dem entgegenwirkt, wofür viele hier in Ilmenau arbeiten: Die Uni und die Stadt "attraktiv zu halten" und "Studierende zu gewinnen".
Nachdem das Präsidium sich mit den Betroffenen und Opfern zusammengesetzt hat, haben sie darüber beraten, welche Maßnahmen sie als nächstes ergreifen. Laut Kai-Uwe Sattler gibt es beispielsweise gerade die Überlegung, die Mensawiese teilweise per Video zu überwachen, um einen "Safe Space" zu schaffen. Außerdem steht im Raum, einen direkten Kontakt zur Polizei zu schaffen, damit die dann direkt zum Campus kommen kann, falls sie gebraucht wird. Der Präsident betont, dass man sich keine Sorgen machen muss, wenn man auf dem Campus unterwegs ist. Außerdem soll man sich bei der Polizei melden und solche Taten anzeigen.
Falls ihr von dem Angriff betroffen seid oder Zeuge wart bzw. Hinweise geben könnt, könnt ihr euch bei der Polizei Ilmenau unter 03677 60 11 24 und der Bezugsnummer 0092833/2025 melden. Solltet ihr noch Bedenken haben, direkt zur Polizei zu gehen, ist die Opferberatung Thüringen, ezra, eine Anlaufstelle.
Bei dem Angriff wurden vor allem ausländische Studierende beschossen und das Kennzeichen des Autos könnte auf einen rechtsextremen Hintergrund hindeuten, berichten Zeugen. Das kann aktuell noch nicht offiziell bestätigt werden. Es muss sich also erst noch herausstellen, warum genau das Auto auf dem Campus unterwegs war und diesen Angriff gestartet hat. Deshalb können wir aktuell auch noch kein Interview mit der Polizei bereitstellen, weil die Ermittlungen noch laufen.
"Wenn die Täter wahrscheinlich eins erreichen wollten, war das, Leuten Angst einzujagen und das haben sie bei mir nicht geschafft. Also ich habe überhaupt keine Angst auf die Straße zu gehen, eher im Gegenteil. Und ich denke, jetzt erst recht und wir müssen laut werden", sagt Fabian im Radio hsf-Interview.
Am Tag nach der Tat gab es in Ilmenau vor der Mensa und in der Innenstadt auch eine Demonstration vom BUNTNIS Ilmenau. Über 100 Menschen haben daran teilgenommen und ihre Solidarität zu den Opfern gezeigt. Auch Oberbürgermeister Daniel Schultheiß war dabei und hat die Tat laut dem MDR als "erschütternd" bezeichnet, vor allem im Hinblick auf die Vielfalt und die Weltoffenheit, die die Stadt und die Uni ausmachen.
Das gesamte Team von Radio hsf empfindet tiefes Mitgefühl mit den Opfern und Betroffenen. Wir wünschen ihnen viel Kraft, das Ganze zu verarbeiten. Lasst euch nicht einschüchtern. Ilmenau ist so viel mehr als das, was am 10.04. passiert ist. Ihr seid nicht allein.